Journalismus: Chefredakteure auf Schleudersitzen [Online-Abo]
Bei der Umstellung von Print- auf Onlinebusiness knirscht es in allen Verlagshäusern gewaltig. Jüngstes Beispiel ist der Abgang des ökonomisch erfolgreichsten Spiegel-Chefredakteurs seit langem. Unter Steffen Klusmann seien die Erlöse aus dem digitalen Vertrieb 2022 weiter kräftig gestiegen, teilte der Verlag vor zwei Wochen mit. Der Jahresüberschuss habe bei knapp 43 Millionen Euro gelegen. Am folgenden Tag erhielt Klusmann den Laufpass.
Zum Nachfolger wurde Dirk Kurbjuweit ernannt, der als launischer Kolumnist oder Verfasser von Romanvorlagen für ARD-Kammerspiele bekannt ist (»Das Haus«, 2021). Eher ein Pappkamerad mit Glamourfaktor als Blattmacher. Die erste Redaktionssitzung überstand Kurbjuweit ganz gut, weil sie virtuell stattfand. Im Homeoffice vor seiner Bücherwand wirkte der neue Chef deutlich weniger (an)greifbar.
An der von Klusmann organisierten Neuausrichtung der Arbeitsabläufe, weg vom Redaktionsschluss der Printausgabe, hin zu »Digital first« mit dem Hauptkonkurrenten Bild, will Kurbjuweit Null Komma nichts ändern, wie er bei der Videokonferenz versicherte. Was wurde seinem Vorgänger zum Verhängnis? Im Wirtschaftsteil der Zeit vom 1. Juni fanden sich einige Hinweise. Als Quelle waren »Gespräche mit Mitarbeitern« angegeben, »von denen sich allerdings keiner zitieren lassen will«.
Verantwortlich ist demnach Geschäftsführer Stefan Ottlitz, der die großen Gesellschafter hinter sich weiß: die Mitarbeiter-KG, die 50,5 Prozent der Verlagsanteile hält, und die RM Holding Hamburg des Bertelsmann-Konzerns (25,5 Prozent). Der Name »Mitarbeiter-KG« ist etwas irreführend. Längst nicht jeder Beschäftigte hat hier mitzureden, das ist vor allem ein Privileg der Altgedienten von der Illustrierten.
Aus welch goldenen Jahren diese Herrenreiter stammen, mag eine Geschichte über einen Spiegel-Redakteur verdeutlichen, der in den 2000er Jahren in den Ruhestand ging. Jahrzehntelang soll er, wenn überhaupt, »für die Tonne« geschrieben und auf seinem Bürorechner keinen einzigen Textentwurf hinterlassen haben – vielmehr habe sich darauf ein weit verzweigtes System zur Verwaltung diverser Immobilien befunden, so die Legende. Mit den Geringverdienern von Spiegel online in einen Topf geschmissen zu werden, war für solche Topverdiener absolut unvorstellbar.
Zum Amtsantritt von Klusmann am 1. Januar 2019 aber wurden Print- und Onlineredaktion zusammengelegt. Früher sei das Magazin, was die Bezahlung vermeintlicher Spitzenkräfte anging, »das Bayern München des Journalismus« gewesen, hat Klusmann vor einigen Wochen erklärt. Mittlerweile würden nur noch »relativ normale Gehälter« überwiesen, es würde auch viel »stärker aufs Gehaltsgefüge« geachtet.
Angleichungen und Einsparungen dürften das Blut manches Altgedienten zum Köcheln gebracht haben. Und bald war der Dank dafür aufgebraucht, dass Klusmann die existenzbedrohliche »Relotius-Affäre« wegmoderiert hatte (Fun Fact: Das erste Statement verfasste er im »Jump House«, einer lärmigen Indoorhölle voller Kinder auf Trampolinen in Berlin-Reinickendorf – für ihn war der Moment nur mit dem Ende der Financial Times Deutschland 2013 unter ihm als Chefredakteur vergleichbar).
Anfang 2023 war Klusmann laut Zeit erschöpft zur Überzeugung gelangt, »dass die Redaktion eine generelle Entlastung« brauche – »neue Kräfte in jedem Ressort, mehr Tiefe in der Breite«. Geschäftsführer Ottlitz habe davon nichts hören wollen, sondern Strategien zur sofortigen Gewinnung neuer Digitalabos verlangt. »Aber auch ein Konzept, sich auf die Themen Geldanlage, Versicherungen und Immobilien zu konzentrieren, wurde nicht genehmigt« (Zeit).
Weil keine Einigung über Investitionen zustande kam, wurden im Frühjahr alle Gewinne an die Gesellschafter ausgeschüttet. Zeitgleich brachen in der Rezession die Werbeeinnahmen ein. Und neben der Zahl der Printabos, von der man es längst gewohnt ist, sank nun in manchen Wochen auch die der digitalen. Vielleicht hat Klusmann am Ende selbst das Handtuch geworfen. »Wenn du das drei Jahre überlebst, bist du gut«, will er Anfang 2019 gedacht haben. Es wurden viereinhalb. Sein Nachfolger dürfte kaum so lange durchhalten.